Wie toll sind wir wirklich? 10 Unternehmen ziehen eine überraschende Gemeinwohlbilanz

Andreas Bannier, Meister der Farben, Thomas Lyer, Druckerei Nienstedt, Norbert Reinermann, Druckerei Zollenspieker Kollektiv
»Was will er eigentlich?«
Das war mal eine lebendige Pressekonferenz! Eingeladen von der Gemeinwohl-Ökomomie (ein Wirtschaftsmodell mit Zukunft) trafen sich vier Berliner und sechs Unternehmen aus Hamburg und Umgebung, um über ihre Erfahrungen mit Matrix, Peer-Evaluation und anderen abstrakt anmutenden Instrumenten einer Gemeinwohlbilanzierung zu reden. Dass sie sich dabei einiges vorgenommen hatten, war klar. Das Fadenkreuz der Matrix bricht Werte wie Solidarität, Menschenwürde, ökologische Nachhaltigkeit, soziale Gerechtigkeit, Transparenz und demokratische Mitbestimmung auf alle Unternehmensebenen herunter: von den Geldgebern über Lieferanten bis zu Kunden, Produkten, Mitarbeitern und Eigentümern bis zum gesellschaftlichen Umfeld. Wer wissen will, wie ernst es ein Unternehmen wirklich mit den Labeln fair, grün und nachhaltig meint, sollte nachschauen, ob es sich dem Prozess einer Gemeinwohlbilanzierung gestellt hat – die Anforderungen gehen weit über die üblichen Corporate Social Responsibilty-Zertifizierungen hinaus. Allein das Handbuch zur Bilanzierung hat 300 Seiten. Als Andreas Bannier, wie er betont »Maler, kein Akademiker«, den visionären Bilanzierungs-Leitfaden zum ersten Mal gelesen hatte, dachte er nur »Was will er eigentlich?«
Aus dem Quark kommen
Ganz offensichtlich muss man sich den Bilanzierungsprozess wie eine Art Blick in den Spiegel vorstellen – mit ungewissem Ausgang. Ludwig Schuster von der Berliner Medienagentur sinnwerkstatt war verblüfft, dass dort, wo er eigentlich Stärken vermutete, ökologischer Nachholbedarf bestand. Prof. Dr. Hartmut Rein, der in der Tourismus- und Regionalberatung arbeitet, musste feststellen, »dass wir in gesellschaftlichen Belangen blank gezogen haben«. Sehr berührend der Aha-Effekt, den Hans Möller aus der Bilanzierung gewonnen hat: »Ich brauche mehr Zeit für mich. So geht das nicht weiter.« Möller stemmt mit drei Mitarbeitern den Bio-Milchvertrieb De Öko Melkburen. Aber ohne die Bilanzierung, da war sich die Runde einig, hätte man Erkenntnisse wie diese niemals gewonnen. Und natürlich geht es nicht um Nabelschau, sondern handfeste Unternehmensberatung. »Sich verbessern«, »aus dem Quark kommen«, »zufriedenere Mitarbeiter«, »andere Strukturen schaffen« sind Anworten, als Moderatorin Dr. Anke Butscher nach der Motivation für eine Bilanzierung fragt. Es fallen durchaus Sätze wie »nicht mehr um den Finanzgewinn konkurrieren, sondern um das Gemeinwohl kooperieren« – nur eben so, wie es Unternehmer sagen, Menschen der Praxis.
»Solidarität ist Selbstverständlichkeit«
Und dann sind da noch die Oldschool-Vertreter von taz und der Druckerei Zollenspieker Kollektiv. Im Grunde, auch das ist klar, leben sie die Matrix bereits seit gefühlten vierzig Jahren. »Höher, schneller, weiter, bis es an die Wand fährt«, sagt Norbert Reinermann von den Zollenspiekern, »das kann es doch nicht sein.« Solidarität mit anderen Druckereien und Kollektiven der Stadt sind eine Selbstverständlichkeit, die Hierarchien sind per definitionem flach. Deshalb sagt auch Andreas Bull, der die 334 taz-Mitarbeiter repräsentiert: »Wir sind die Gemeinwohlbewegung, das steckt uns in den Genen.« Ob es gelingt »eine Massenbasis für die Gemeinwohlökonomie bei der taz herzustellen«, so steht es im entsprechenden Infoblatt, das jedes Unternehmen zur Jahrespressekonferenz beigesteuert hat, »ist schwierig. Die Mitarbeiter bleiben abwartend.« Es spricht sehr für die Qualität der Veranstaltung, dass nicht nur zur Sprache kommen darf, wie toll das alles ist, sondern auch, dass vieles am Prozess einer Gemeinwohlbilanzierung besser werden muss. Das Tierwohl habe ihr gefehlt, sagt beispielsweise Tatjana Tegel von der Meierei Horst. Die Matrix fokussiere zu stark auf das produzierende Gewerbe und zu wenig auf den Dienstleistungssektor, sagen Felix Weth von fairmondo und Prof. Dr. Rein von BTE. Um die Prozesse zeitlich zu straffen, hat das Team von sinnwerkstatt ein nützliches Online-Tool konzipiert – in enger Absprache mit der GWÖ Berlin-Brandenburg – die dessen Weiterentwicklung offensiv vorantreibt, damit es möglichst bald auch von anderen Unternehmen genutzt werden kann.
Mitmachen und gefördert werden? Noch sind wenige Plätze frei
Bis zum Herbst 2015 werden insgesamt dreißig kleine bis mittlere Unternehmen bei der Erstellung und Zertifizierung ihrer Unternehmens-Gemeinwohlbilanz von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt (DBU) finanziell gefördert. Die Förderung gilt für die Modellregionen Hamburg und Berlin. Derzeit befinden sich neun weitere Unternehmen in beiden Metropolen im Bilanzierungsprozess. Noch vor den Sommerferien, werden die nächsten Gruppen nach der Methode der Peer-Evaluation starten. Ein paar wenige freie Plätze gibt es noch – bei Interesse bitte an die Ansprechpartner Sabine Siehl oder Thomas Deterding wenden (Mail-Adressen unten).
Und hier die Links:
Die Öko Melkburen aus Lentföhrden sind bekannt für ihre Jahreszeitenmilch und als Aktionärs-Pioniere der Regionalwert AG
Auch Ferienhof Möller ist aus Lentföhrden und kombiniert Ferien mit Landwirtschaft
Die taz hat ihre Gemeinwohlbilanz bereits ins Netz gestellt und landete mit 395 von 1000 Bilanzpunkten im Mittelfeld
Spannend: Meierei Horst hat Mitte 2014 auf Erzeuger- und Konsumgenossenschaft eG umgestellt – Konsumenten und Milchbauern können sich direkt beteiligen
Der Malerbetrieb Meister der Farben von Andree Antosch darf sich auch 2015 wieder Hamburgs »bester Arbeitgeber« nennen
»Wir machen öko-sozialen Wandel« – nach der Bilanzierung wird bei der sinnwerkstatt Medienagentur jetzt noch leidenschaftlicher diskutiert als ohnehin schon
Auch der faire Online-Marktplatz fairmondo eG hat bereits die Bilanz ins Netz gestellt – mit 648 von 1000 möglichen Punkten
Gleich zwei Hamburger Druckereien am Start: Druckerei Nienstedt und die Druckerei Zollenspieker Kollektiv
Mit 23 Mitarbeitern an allen drei Standorten in Berlin, Hannover und Eisenach ist die BTE Tourismus- und Regionalberatung auf dem Gemeinwohl-Weg
Diesen Weg will auch der Veranstaltungsort beschreiten: die Rathauspassage – das Café mit Bookshop und Tourismusinfo wird u.a. von der Diakonie betrieben, um Langzeitarbeitslosen einen Job zu geben
Die Bilanzierung wurde gefördert von der Deutschen Bundesstiftung Umwelt DBU
Ansprechpartner:
Gemeinwohl-Ökomomie Hamburg: Sabine Siehl, sabine.siehl(at)gemeinwohl-oekonomie.org
Gemeinwohl-Ökonomie Berlin-Brandenburg c/o Thinkfarm: Thomas Deterding,
thomas.deterding(at)gemeinwohl-oekonomie.org
Gemeinwohl-Ökonomie Hamburg, Gemeinwohl-Ökonomie Berlin-Brandenburg
Veröffentlicht am 28.04.2015
Klasse Artikel!
Als Teilnehmer in der Peergroup zur Gemeinwohl-Bilanzerstellung für EPUs aus Hamburg war ich anwesend. Kurzum neue Einblicke und Eindrücke bestätigten den Sinn und Handeln für das Gemeinwohl..