Nüchtern sein macht glücklich

Mal was Sinnvolles zum Thema Entgiftung: »Nüchtern« von Daniel Schreiber, jetzt als Taschenbuch bei Suhrkamp

Elf Kapitel auf 153 Seiten, mit Quellenangabe: klein, aber fein

Elf Kapitel auf 153 Seiten, mit Quellenangabe: klein, aber fein

Mehr, mehr, mehr

Wie schwer es Daniel Schreiber gemacht wird, auch in geselliger Runde nüchtern zu bleiben, grenzt ans Komische – obwohl es doch eigentlich traurig ist. Einer muss halt noch gehen, um sich als Gruppe ganz zu fühlen. Wer ausschert, verdirbt den Spaß. Nicht eines, auch nicht das winzig kleinste Gläschen Alkohol zu trinken, trifft bei Feiernden auf Unverständnis, vielfach bei jenen, die selbst gut beraten wären, denselben Weg wie Schreiber zu gehen: ihre Alkoholkrankheit erkennen, sie wahrhaben, sich helfen lassen, nüchtern leben. Um diese Botschaft verständlich zu machen, missioniert der 1977 geborene Journalist nicht, er ereifert sich nicht, er schockiert nicht à la Jack Londons »König Alkohol« oder Hans Falladas »Der Trinker«. Mehr im Plauderton umkreist er den eigenen und kollektiven Alkoholkonsum, welcher der Wachstumslogik unseres Wirtschaftssystems folgt: »Sich zu betrinken oder bewusstseinsverändernde Substanzen einzunehmen ist weder ungewöhnlich noch unnatürlich oder subersiv. Es ist die gesellschafltiche Norm«, schreibt Schreiber. Und: »Insgesamt hat sich unser Pro-Kopf-Verbrauch nach dem Zweiten Weltkrieg fast vervierfacht, ein Anstieg, der, obwohl von der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen statistisch geprüft, regelmäßig in Zweifel gezogen wird.«

Die Liebe meines Lebens

Die spielerische Ich-Perspektive, wie man sie aus Blogs kennt, beherrscht Schreiber perfekt. 153 Seiten, elf Kapitel: das liest sich schnell und entfaltet fast unbemerkt Nachdruck. Geht einem nicht so schnell aus dem Kopf, das Gelesene. Anders als Benjamin von Stuckrad-Barre oder John Foster Wallace zügelt Schreiber die voyeuristische Lust der Leser, indem er seine Tiefpunkte nicht en détail preisgibt. Das ist angenehm distanziert. Die Person des Autors, in den irren Momenten ihrer Sucht narzistisch gespiegelt, bleibt im Hintergrund. So gewinnt Leserin oder Leser Raum, über den eigenen Umgang mit suchtauslösenden, allgegenwärtigen Substanzen reflektieren zu können. Mir persönlich gefällt die Zartheit dieses Buches. Schreiber scheut sich nicht, den Alkohol, oder besser, das Trinken, als die »grosse Liebe meines Lebens« zu bezeichnen. Das macht das Bild des einsamen Wolfes aus Spielfilm oder TV-Serie verständlicher, der sich nach einem emotionalen Rückschlag mit dem Chef, der Frau oder dem Kumpel an den Tresen zum Absturz zurückzieht. Es erklärt auch, weshalb die Sucht ein Leben lang im Gehirn und Gefühlshaushalt erhalten bleibt: am Tresen wartet der Trost, die Entspannung, das Vergessen, der Tod. Und es ist nicht so lustig, wie der launig-leichtgewichtige Eckart von Hirschhausen meint, indem er kalauert, dass die Leber mit ihren Aufgaben wachse. Wer also nicht will, dass aus dem Flirt mit dem Alkohol ein Kampf auf Leben und Tod wird, bekommt nach der Lektüre von »Nüchtern – Über das Trinken und das Glück« so eine Ahnung, wie es gehen könnte.

Daniel Schreiber ist bei Wikipedia

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Und hier die Links:

Daniel Schreibers Wikipedia-Eintrag

»Nüchtern – über das Trinken und das Glück« – jetzt als Taschenbuch bei Suhrkamp erschienen, vielen Dank für das Rezensionsexemplar!

Lesenswerte Bücher aus vergangenen Jahrhunderten, die die Gefahren des Alkoholismus eindringlich beschreiben: »König Alkohol» von Jack London via Literaturcafé und »Der Trinker» von Hans Fallada via Aufbau-Veralg

Autoren, die überbordend beschreiben, wie man dank Alk, Koks und wasweißich aus der Kurve fliegt: Benjamin von Stuckrad-Barre und David Foster-Wallace

Mir, wie immer, zu seicht: Eckart von Hirschhausen »Die Leber wächst mit ihren Aufgaben«

Veröffentlicht am 06.05.2016

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