Firmenkonstrukte wie Tönnies und KTG Agar nutzen Gesetzeslücken zum Nachteil von Gläubigern und Steuerzahlern – und wir sehen tatenlos zu?

Wem sollte Ackerland in Zukunft gehören? Internationalen Finanzjongleuren oder Klein- und Jungbauern?
Tönnies nutzt »Wurstlücke«
Im Gesetz gegen Wettbewerbsbeschränkungen (GWB) klafft eine Gesetzeslücke. Das ist seit langem bekannt. Wirtschaftsjournalisten nennen sie auch die »Wurstlücke«. Das Wort bezieht sich auf ein vom Bundeskartellamt im Juli 2014 verhängtes Bußgeld. Damals wurden 21 Wursthersteller wegen illegaler Preisabsprachen bei Würsten und Schinken bestraft. Das Bußgeld betrug insgesamt 338 Millionen Euro. Auf zwei Töchter der Tönnies Gruppe entfiel ein Anteil von 128 Millionen Euro. Doch schon bald nachdem die Behörde ihr Urteil gesprochen hatte, wurden die Schwächen des Gesetzes offenkundig. Erst vor wenigen Wochen gelang es dem Gesetzgeber, die »Wurstlücke« zu schließen. Für uns Steuerzahler leider zu spät: Tönnies hat in der Zwischenzeit »konzernintern umstrukturiert« und die beschuldigten Tochterfirmen abgewickelt. Dagegen ist das Bundeskartellamt machtlos. Und meldet am 19. Oktober: »Verfahren gegen Gesellschaften der Clemens Tönnies-Gruppe eingestellt – Bußgelder in Höhe von 128 Millionen Euro entfallen.«

Wohin mit den Milliarden? Neben »Betongold« gilt Boden als krisensicheres Invest
Landgrabbing in Ostdeutschland
Die Journalistin Agnes Handwerk hat für den NDR die Insolvenz der börsennotierten KTG Agrar SE recherchiert. Darin heißt es: »Insgesamt über 342 Millionen Euro haben Anleger verloren, weil sie einem Mann vertraut haben, der Agrar-Anleihen unter dem Motto ‘Gegessen wird immer’ geschickt als ein hundertprozentig sicheres Investment an die Börse gebracht hat.« Der Mann heißt Siegfried Hofreiter. Als Geschäftsführer der Gesellschaft ist er inzwischen zurückgetreten. Die KTG Agrar hat im Juni Insolvenz angemeldet. Die Hamburger Staatsanwaltschaft ermittelt wegen Verstößen gegen das Aktienrecht. Auch im Fall KTG Agrar sind Gesetzeslücken zu beklagen: Nicht Bauern, sondern eine Baufirma hat den Zuschlag für KTG-Äcker und -Geschäftsteile bekommen.
Gesetzeslücken schließen – später
»In diese Liga von Familienunternehmen, die in Landwirtschaft investieren, gehören auch die Lindhorst Gruppe, die Immobilien- und Seniorenheime betreibt, der Abfallentsorger Rethmann und viele mehr«, heißt es im NDR-Beitrag. »Diese Familienunternehmen besitzen heute mehr Land, als der Feudaladel vor der Bodenreform nach dem Ersten Weltkrieg.« Landgrabbing im Osten Deutschlands ist zwar an der Tagesordnung, politisch aber keineswegs gewollt. Eigentlich möchte man die Äcker lieber an mittelständische Landwirte oder Jungbauern vergeben. »Wenn außerlandwirtschaftliche Investoren nur Flächen kaufen, haben wir eine Möglichkeit des Einschreitens durch das Grundstücksverkehrsgesetz. Wenn sie ganze Betriebe kaufen dann nicht«, erklärt ein Ministerialbeamter. »Das ist eine Gesetzeslücke, die aus unserer Sicht besteht, und wir sind bestrebt, diese zu schließen. Das heißt aber auch: Wir haben sie noch nicht geschlossen. Das Land arbeitet daran. Das wird ein Projekt sein der nächsten Legislaturperiode.«

Sind wir machtlos? Im Großen vielleicht ja, im Kleinen ganz gewiss nicht!
Und wir so?
Wir leben in einer Welt, in der die »Wolfs of Wallstreet« gefeiert werden statt verachtet. Trickster wie Tönnies oder Hasardeure wie Hofreiter haben Glamour. Ähnlich wie Lars Windhorst, Carsten Maschmeyer oder Utz Claasen werden sie als streitbare Stehaufmännchen stilisiert. Zu smart für Politiker, zu abgehoben für Menschen wie dich und mich. Die Geschichten, die man uns über sie erzählt, lassen Politiker vergleichsweise schwach erscheinen. Als Marionetten der Finanzwelt. Eine der Headlines im Fall Tönnies lautet: »Wurstfabrikant Tönnies führt Bundeskartellamt vor«. Diese Art der Berichterstattung ist gefährlich. Sie reduziert Komplexität. Der BBC-Journalist Adam Curtis skizziert dieses Narrativ in seiner jüngsten, mehr als zweistündigen Dokumentation »Hypernormalisation«. Sehenswert!
Rasender Stillstand?
Können wir wirklich nichts tun? Doch, doch, wir haben Optionen. Wir können zum Beispiel Sprüche wie »Das Geld ist nicht weg, nur woanders« aufs Sofakissen sticken und dabei einer Kabarettsendung lauschen. Ändern wird das nicht viel, aber zumindest haben wir Spaß. Zum Wutbürger mutieren und mindestens drei Online-Petitionen täglich unterzeichnen dient möglicherweise der Psychohygiene. Wir können auch die vier Großkunden von Tönnies boykottieren und kein Schweinefleisch mehr bei Aldi, Lidl, Edeka oder REWE kaufen. Falls wir überhaupt Schweinefleisch essen. Weniger Fleisch essen, Stichwort: Sonntagsbraten, ist sowieso eine gute Idee. Wir können uns in einem Ernährungsrat engagieren. Bei Foodsharing mitmachen. Ein Abo bei einem Bauernhof abschließen, der im Netzwerk Solidarische Landwirtschaft mitmacht. Alle Formen des Direktmarketings unterstützen, sei es über Food Assembly oder durch das Einkaufen im Hofladen oder auf dem Wochenmarkt. Eine Aktie von einer der Regionalwert AGs kaufen. Oder zwei. Gärtnern. Bei Mundraub.org wildwachsendes Obst oder Nüsse einstellen. Unsere Stadt essbar machen. Wir können sogar einer Partei beitreten und uns auf einer Ortsvereinssitzung mit Stallgeruch parfümieren. Obwohl….
Und hier die Links:
Über viele Lichtblicke habe ich hier schon gebloggt: Regionalwert HH, die Bewegung der essbaren Städte, den Verein nah:türlich geniessen e.V., Food Assembly oder die Olivenöl-Abholtage von Conrad Bölicke – schaut rein!
Wer mehr zum Thema Landgrabbing wissen will, wird bei dieser sehr hilfreichen Seite der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit GIZ fündig
Hier der Trailer zu »Hypernormalisation«. Wer das Ganze in voller Länge sehen will, geht wie folgt vor: Man braucht dafür den Google Chrome Browser. Dort in den Extensions „Beeps“ herunterladen – dann kann man auf der BBC-Seite den Film sehen
Tönnies in Zahlen, Quelle agrarheute.de
Einen Überblick über die zehn größten Fleischerzeuger in Deutschland vom Handelsblatt
Hier einige weiterführende Links zur Berichterstattung über KTG Agrar – etwa bei Capital oder in der FAZ
Zuguterletzt noch eine kleine Petitesse um den »Wolf of Wallstreet«-Darsteller Leonardo Di Caprio
Sowie ein Wiedersehen mit Lars Windhorst, Kohls ehemaligem Wunderkind der New Economy
Veröffentlicht am 21.10.2016