Wir sind nur zu 10 Prozent Mensch. Der Rest ist Mikrobiom. Je mehr wir darüber wissen, desto gesünder sind wir

Neue Erkenntnisse über das Mikrobiom dank DNA-Analyse
Antibiotika vs. Mikrobiom
»Auf jede einzelne Zelle unseres Körpers kommen neun Zellen, die wir mehr oder weniger unbemerkt als Trittbettfahrer dabei haben«,schreibt Dr. Allanna Collen ihrem Buch »Die Stille Macht der Mikroben«. Ihre Botschaft: Je mehr wir uns mit diesen 10 Billionen Mikroben anfreunden – zur Hauptsache Bakterien, aber auch Pilze, Viren und Parasiten –, desto besser arbeitet unser Immunsystem. Die Evolutionsbiologin spricht aus leidvoller Erfahrung. Nach längerem Forschungsaufenthalt im Urwald infizierte sie sich mit einer Tropenkrankheit, ausgelöst durch zahlreiche Zeckenbisse. Die Symptome wurden durch die lange und intensive Behandlung mit Antiobiotika zurückgedrängt, doch dabei wurde ihr Mikrobiom im Darm stark beschädigt. Collen: »Ich war keimfrei wie ein Stück Pökelfleisch.« Wunde Haut, eine empfindliche Verdauung und alle naslang ein bakterieller Infekt machten ihr das Leben zur Hölle. Nichts half, bis die Wissenschaftlerin eine Kotprobe zur DNA-Analyse in ein Labor schickte. Dort stellte man eine relativ hohe Konzentration der Bakterienarten vom Stamm Suturella fest. Collen fand heraus, dass diese auch bei Autisten gehäuft vorkommen. Autisten leiden häufig unter physischen »Ticks« wie dem Zucken von Gesichts- und Nackenmuskeln. Auch bei Collen waren diese Symptome überraschend aufgetreten. Gab es einen Zusammenhang?

Pionier der Hygiene, Vater des Impfens: der Mikrobiologe und Chemiker Dr. Louis Pasteur
Der Anaerobier, das unbekannte Wesen
Um es gleich vorwegzunehmen: zwischen dem Auftreten bestimmter Mikroben und Krankheiten wie Autismus, Multipler Sklerose oder Allergien einen Ursache-Wirkung-Zusammenhang abzuleiten, ist wissenschaftlich unhaltbar. Die Beschaffenheit eines Mikrobioms kann bloß die Begleiterscheinung einer Erkrankung sein und nicht deren Ursache. An diesem Punkt steht die Wissenschaft noch ganz am Anfang. Viele Mikroben – insbesondere jene, die unter Ausschluss von Sauerstoff in unserem Darm leben – lassen sich unter Laborbedingungen nicht züchten. Aus diesem Grund blieben sie jahrhundertelang unerkannt. Heute können wir dank DNA-Analysen die Identität der uns besiedelnden Einzeller lüften und entschlüsseln, was sie tun. Ein Riesenfortschritt! Pioniere wie Ignaz Semmelweis, Louis Pasteur, Rudolf Virchow oder Alexander Fleming haben uns von der Geißel tödlicher Keime befreit. Sie haben den Kampf eröffnet und Penicillin, Impfstoffe und das Konzept der Hygiene erfunden. Jetzt dämmert uns allmählich, dass nicht jeder Virus, Pilz, Parasit oder Bakterium uns töten will. Sondern dass wir im Gegenteil in Millionen von Jahren in Symbiose vereint sind – und die Koexistenz durch einen allzu massiven Einsatz von Antiobiotika oder allzu strenge Hygiene aus dem Gleichgewicht bringen.

Rezension »Die stille Macht der Mikroben«, Dr. Alanna Collen, Riemann Verlag, 2015
Ballaststoffe modulieren deine Immunantwort
Für Ernährungs- und Gesundheitsbewusste vermeldet Alanna Collen besonders in den Kapiteln »Man ist, was sie essen« und »Darmsanierung durch mikrobielle Aufforstung« Wissenswertes. Die gute Botschaft zuerst: Je mehr pflanzliche Ballaststoffe wir essen, desto besser unser Befinden. Collen: »Möglicherweise sind gar nicht die Mikroben selbst das Entscheidende, sondern die Verbindungen, die sie produzieren, wenn sie Ballaststoffe aufschließen.« Dabei handelt es sich um kurzkettige Fettsäuren wie Acetat, Propionat und Butyurat. Nach dem Schlüssel-Schloß-Prinzip kommunizieren sie mit unseren Abwehrzellen. Falls reichlich vorhanden, signalisieren sie, dass alles okay und keine Immunantwort erforderlich ist. Bei einem Mangel treten Autoimmunkrankheiten eher auf oder die Symptome eines »leaky gut«, eines durchlässigen Darms. Collen: » […]eine ungesunde Mikrobenzusammensetzung geht einher mit dem Lockern der Ketten, die die Zellen der Darmwand zusammenhalten. Dadurch wird die Darmwand durchlässig, und alle möglichen Verbindungen, die nicht dorthihn gehören, können in die Blutbahn eindringen. […] Die Aufgabe von Butyrat ist es, die Löcher zu stopfen.« Sich fortan jedoch mit allerlei Pre- und Probiotika vollzustopfen, ist auch keine Lösung. So einfach, das zeigt Collens lesenswertes Buch, ist die Sache auch wieder nicht. Entscheidend ist beispielsweise schon unser Start in die Welt – also das Beimpfen eines Neugeborenen mit dem Mikrobiom der Mutter bei einer natürlichen Geburt. Und auch wenn wir unser Mikrobiom bestmöglich aufforsten, zum Beispiel durch eine Kot-Transplantation, können wir dadurch nicht alle Krankheiten heilen und irreversible Schäden beheben. Aber die Forschung scheint auf gutem Weg zu sein. Vielleicht führt sie uns am Ende wieder aus der Sackgasse heraus?
Und hier die Links:
Deutschlandradio Kultur hat »Die stille Macht der Mikroben« rezensiert
Gute Englischkenntnisse erforderlich: Dr. Alanna Collen bei youtube
Welche Stämme beherbergt dein Darm? Hier der Link zu einem deutschen Spezial-Labor (Stichwort: metagenomische Stuhldiagnostik)
Du willst mehr über Ignaz Semmelweis, Louis Pasteur wissen? Oder über Rudolf Virchow? Beziehungsweise den Erfinder des Penicillins Alexander Fleming?
Interessantes Projekt: Die OpenMicrobiome Stuhlbank aus den USA
Veröffentlicht am 10.07.2016