Frische, naturbelassene Milch heißt Vorzugsmilch – und bei diesen Bauern und Gelegenheiten lernst du sie kennen
Erbe der Kriegswirtschaft
Immer öfter fragt man sich, wessen Interessen der Gesetzgeber eigentlich vertritt. Etwa bei der Milch. In Vorbereitung des zweiten Weltkriegs regelten die Nationalsozialisten den Handel mit Milch neu, Stichwort lange Lagerfähigkeit. Nach Kriegsende hatte die Rücksichtnahme auf große Erzeuger und Massenvertrieb weiterhin Vorrang. So verschwanden nach und nach die kleinen Geschäfte, in denen man sich mit einer Milchkanne bewaffnet frische, naturbelassene Milch holen konnte. Mitte der Sechzigerjahre kam die H-Milch, in feinste Fettpartikel homogenisiert und bei bis zu 150° Grad keimfrei ultrahocherhitzt. »Extended Shelf Life« Milch trat 1990 in Erscheinung. Anders als H-Milch ist sie nicht monatelang haltbar. 12 bis 21 Tage aber schon. Die Ware mit dem verlängerten Regal-Leben muss seit 2007 nicht mehr als »hocherhitzt« gekennzeichnet werden. Für den Verbraucher bleibt die Machart undeutlich. Attribute wie «länger frisch« oder »Frischmilch – länger haltbar« gaukeln vor, was ältere Jahrgänge noch als »the real thing« erinnern: Frische Milch, auf der sich oben mehr oder weniger Rahm absetzt, die außerhalb des Kühlschranks zu Dickmilch erstarrt und die – je nach Fütterung oder Jahreszeit – immer ein bisschen anders schmeckt.
Es gibt sie noch
Alles verloren, aus und vorbei? Nicht für alle. Wer etwas mehr zu zahlen bereit ist, kann hierzulande immer noch Vorzugsmilch bekommen. Sie ist nicht homogenisiert, ultrahocherhitzt oder pasteurisiert und muss vom Erzeuger und Weiterverarbeiter lediglich gefiltert und gekühlt werden (Quelle: Wikipedia). Man kauft sie entweder direkt bei Milchbauern mit einer Sondergenehmigung für den Vertrieb. Oder vereinzelt auf dem Wochenmarkt, sofern man eine Erklärung unterzeichnet hat, auf eigene Verantwortung zu handeln. Zunehmend aber auch bei Händlern, die die Vorlieben traditionsbewusster Käufer erkannt haben, zum Beispiel in den Brot & Butter-Ladengeschäften von Manufactum oder in einigen Berliner Filialen der Bio Company.
Melkkurs, Hoffest, Expertenrunde
Am 1. Juni ist »Tag der Milch«. Nicht, dass es da viel zu feiern gäbe. Das leidvolle Leben einer Milchkuh beschreibt der Vegetarier-Bund eindrücklich. Wenigstens die Demeter-Bauern lassen den Kühen die ihrer Kommunikation dienenden Hörner, wenn auch aus anderem Grund. Wer auf Milch nicht verzichten möchte und viel Wert auf eine möglichst artgerechte Haltung legt, fragt bei Bauer oder Händler nach: Wie werden die Tiere gehalten? Wie gemolken? Wie gefüttert? Wie lange dürfen sie leben? Anbieter von Vorzugsmilch scheuen diese Fragen nicht, ganz im Gegenteil. Viele vermarkten ihre Milch direkt ab Hof, wo die Kunden Einblick nehmen können. Sie laden zu Melkkursen im Rahmen von Hoffesten ein und zeigen vor Ort, was beim Melken zählt (Quelle Milchhof Reitbrook). Ein ganz besonderes Datum, an dem sich die interessierte Öffentlichkeit über die Vorzüge naturbelassener Milch und die Fragestellungen von Geschmack, Qualität, Verbrauchersicherheit oder Verbrauchersouveränität austauschen kann, ist der 28. Mai 2015. Von 11:00 bis 14:00 Uhr lädt der Milchhof Lerf in Ottobeuren zu einer Experten-Gesprächsrunde ein – auf Initiative von Slow Food Deutschland. Die Teilnehmerzahl ist begrenzt – aber ein paar wenige Plätze gibt es noch. Interessierte bitte anmelden bei: kontakt(at)kirsten-kohlhaw.de
Zum Schäumchen verkommen, unerträgliche Entwürdigung
Inzwischen hat das Gespräch stattgefunden – und hier ist die sehr lesenswerte Zusammenfassung der Diskussion
Teilnehmer:
Dr. Ursula Hudson, Vorsitzende Slow Food Deutschland e.V., Berlin
Prof. Dr. med. Erika von Mutius, Oberärztin an der Haunerschen Kinderklinik in München. Leitung der Allergie-Ambulanz und Leiterin der PASTURE-Studie – Rohmilch macht den Unterschied
Erich Lerf, Milchhof Lerf, Ökologischer Landwirt und Vorzugsmilch-Hersteller
Und hier die Links:
Aktuell: Die Welttierschutzgesellschaft hat via Change.org zum Weidecheck aufgerufen – im Rahmen der Petition »Tiergerechte Mindeststandards für die Haltung von Milchkühen«
PLZ-Übersicht über viele Milchbauern, die Vorzugsmilch verkaufen dürfen
Auch in Hofkäsereien kann man nach Rohmilch fragen – organisiert im Verband für handwerkliche Milchverarbeitung im ökologischen Landbau e.V.
Brot & Butter-Filialen von Manufactum
Grundsatzerklärung Rohmilch von Slow Food Deutschland
Wikipedia, mit deutlich erkennbarer Handschrift der Milchindustrie: H-Milch, ESL-Milch, Rohmilch sowie Vorzugsmilch
* Strip, strap, strull
Dei Emmer dei is vull,
Ga hen un lang den Tower,
Dei Emmer dei geit ower // Volksmärchen vom Daumgroß
Veröffentlicht am 15.05.2015