Value-action-gap: Warum werfen wir einmal gefasste Vorsätze so schnell wieder über den Haufen?

C 8 H 10 N 4 O 2 ist die chemische Formel für Coffein – am umweltschädlichsten aus Alu-Kapsel/Coffee-to-go-Becher konsumiert
Weil der Mensch ein Mensch ist
Wie so oft, gibt es für eine griffige englische Formulierung wie Value-action-gap keine passende deutsche Übersetzung. Inkonsequenz? Viel zu global. Innerer Schweinehund? Zu verniedlichend. Wert-Tat-Abstand? Wertvorstellungs-Handlungs-Lücke? Haha. Sogar wenn man nach einer Formel zur Überwindung von Value-action-gaps sucht, landet man schnell wieder bei Anglizismen. Zum Beispiel bei »Walk your talk«, »Action speaks louder than words« und so weiter. Ist doch auch gut so. Wir brauchen Gedächtnisstützen, die uns dabei helfen, die anstehenden Probleme zu lösen. Früher machte man dafür ein Knoten ins Taschentuch. Heute haben wir die Wahl zwischen Taschentüchern aus neuem und aus recyceltem Zellstoff. Wer grün wählt ein Hybrid-Auto fährt und Tempo-Taschentücher aus schwedischem Kahl Holzschlag kauft, hat ein Value-action-gap. Wer regionales Gemüse predigt und ganzjährig Tomaten isst, auch. Ähnliches gilt für: T-Shirts von H&M holen und sie mit Kastanien waschen. Essigreiniger gegen Kalk benutzen und Peeling-Gel mit Microplastik. Und so weiter.
Value-action-gap – von Soziologen erfunden
Bezeichnenderweise wurde der Fachbegriff für den Widerspruch zwischen Absicht und Aktion in den Sozialwissenschaften geprägt. In den 1970er Jahren hatte man dort die Theorie des überlegten Handelns aufgestellt. Man dachte allen Ernstes, mit dem sogenannten Fishbein-Modell das Kaufverhalten vorhersagen zu können. Ein Bestandteil der Fishbein-Formel ist die Einstellung eines Menschen gegenüber einem Produkt. Aber bald stellte sich heraus, dass die Einstellung kaum Einfluss auf den Kaufakt ausübt. Es handelt sich um einen Irrglauben der Wissenschaft. Kein Einzelfall. Auch die Idee des Homo oeconomicus – zu deutsch: Wirschaftsmensch – führt bekanntlich auf den Holzweg. Wir Menschen sind nunmal keine rationalen Wesen. Wir handeln gern entgegen unseren Vorsätzen. Sei es aus Unwissen, sei es aus Zynismus. Nicht umsonst sagen wir zu schlemmen »sündigen« und bauen in unsere Diäten den »Cheat Day« ein, den Mogel-Tag, an dem alles erlaubt ist.
Konsumenten, die auf Werte starren

Dinge im Überfluss für alle – im Spätkapitalismus sogar 24/7. Ist das das Ziel der menschlichen Evolution?
Die meisten von uns mogeln sogar 24/7. Nach mir die Sintflut. Alles ist erlaubt, alles ist möglich. Schon seit Jahrtausenden spukt die Vorstellung einer grenzenlosen Freiheit in den Köpfen der Menschheit. Wir alle lieben das Neue. Testen unsere Grenzen. Streben nach Fortschritt. Verabscheuen Zwänge und Regeln. Wir alle nehmen in Kauf, dass da, wo gehobelt wird, Späne fallen. Lust ist uns näher als Gewissen. So ist nunmal unsere Natur. Dafür können wir nichts. Ganze Generationen von Kirchenvätern haben sich daran schon die Zähne ausgebissen. Interessanterweise wurde der Begriff Value-action-gap speziell für grüne Themen entwickelt: Umwelt, Klima, Ressourcen, Tierwohl, you name it. Wir befürworten grüne Modelabels, aber wir kaufen sie nicht. Der Marktanteil wirklich fair gehandelter Produkte ist unbedeutend. Wir predigen regional, aber wir konsumieren am liebsten global. Natürlich pocht dabei das schlechte Gewissen, die Haltung. Schließlich sind wir bestens informiert. Aber wozu gibt es »bio«, »fair« und »zertifiziert«? Ein Blick in Sina Trinkwalders Buch »Fairarscht« sollte uns eines Besseren belehren.
Machen, was machbar ist

Sind neue Technologien die Lösung für unsere Umweltprobleme – Stichwort Atommüll ins All schießen – oder sind sie es nicht?
Doch zurück zur Freiheit. In seinem Buch »Alles fühlt« widersetzt sich der Biologe Andreas Weber der herrschenden Lehre. Er sagt, in der Natur sei keineswegs alles auf Überleben und Effizienz getrimmt. So wenig wie es einen rational handelnden Wirtschaftsmenschen oder das rundum überlegte Handeln gäbe, strebe die Evolution nach dem »Survival of the fittest«. Es sei eher die Freude am Leben an sich, die die Entwicklung aller Lebewesen vorantreibe, egal ob als Pflanze, Tier oder als Mensch. Weber: »Es ist nicht der Affe in uns, der uns brutal macht; vielmehr ist der Affe, der wir sind, zu einem gewaltigen Spektrum an Handlungen fähig. Jeder Überschwang, jeder Freiheitsgrad mehr verspricht so auch ein größeres Potenzial des Schmerzes.« Wir sind also gut beraten, mit den uns geschenkten Möglichkeiten verantwortungsvoll umzugehen. Das wusste bekanntlich schon der alte Kant mit seinem kategorischen Imperativ. »Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde«, forderte der Philosoph lange bevor es Klimawandel, Massentierhaltung, Ressourcenvernichtung, Überfischung und so weiter gab. Sollte uns das zu denken geben?
Schmetterlinge, die mit Flügeln schlagen

Können schon winzige politische Botschaften unser Bewusstsein erhöhen?
Ja, der kategorische Imperativ sollte uns zu denken geben. Eigentlich ist er bereits »Common sense«. Sowas wie ein Value-action-gap gäbe es nicht, wären Umweltbewusstsein und Karma Konsum nicht bereits von vielen verinnerlicht. Es ist wichtiger denn je, Werte zu haben. Unrealistisch wäre es allerdings, sie zur Perfektion treiben und zu hundert Prozent danach zu handeln zu wollen. So sind wir Menschen offensichtlich nicht gestrickt. In dem Bestseller »Simplify your life« heißt es an einer Stelle: »Der Wunsch nach Vollkommenheit ist der am häufigsten vorgebrachte Grund, es gar nicht erst zu versuchen.« Auch Kleinigkeiten können Großes bewirken – analog zum berühmten Schmetterlingsschlag, der einen Sturm auslösen kann. Außerdem sollten wir uns nicht von Rückschlägen entmutigen lassen. Sondern die Dinge hinterfragen. So wie es Sina Trinkwalder mit ihrem Buch »Fairarscht« macht oder der Mathematik-Professor Gerd Bosbach mit seiner Internet-Seite Lügen mit Zahlen. Wir können schon selbst denken und auch danach handeln. Doch wir sollten auch gnädig mit uns sein. Die Idee mit dem »Cheat day« finde gar nicht so schlecht. Beim Essen wäre das zum Beispiel: sechs Tage Gemüse aus der Region, am siebten Tag eine Avocado. Und so weiter.
Mother, this life in the modern world is so complicated. It was better before in the Himalyan caves.
Mother Meera (laughing): I don’t think so. Here you have a house, hot water, shower and heating.
Zitat aus: 108 Mother Meera on Tour
Und hier die Links:
Was sagt Wikipedia über die Lücke zwischen Wertvorstellung und Handlung?
Wer die Fishbein-Formel kennenlernen will, klickt hier
Blogfreund Tobias hilft mit dieser Fishbein-Website 1 A weiter – guckst du auch Studienretter ganz allgemein
Die Idee vom Wirtschaftsmenschen und ihre Folgen
Wieso? Es gibt doch Zertifikate? Als Marke wirbt Tempo zum Beispiel mit SCA. Bezüglich Holzzertifikat FSC hier ein interessanter Hintergrundbericht…
Und zum Schluss noch ein interessanter englischsprachiger Beitrag zum Thema »limited pool of worry«
Veröffentlicht am 28.12.2016
Hach, es ist mir eingefallen, wie die deutsche Formulierung der Problematik ist: „Handeln wider besseren Wissens“ oder wie wir Neugriechen es auch nennen: Akrasia.
Herrlich! Lässt sich sehr gut in Small Talks einflechten. »Neigen Sie auch zu Akrasia?« und schon ist man aufs Philosophischte verwickelt. Danke für den Hinweis!
sehr interessant mal wieder. Danke. :)